Melissa Reinken steht vor dem großen Weihnachtsbaum im Verwaltungsgebäude des Leinerstifts in Großefehn. Sie lacht – obwohl die Adventszeit für sie und ihre Kolleg*innen immer eine ganz besondere Herausforderung darstellt. „Weihnachten ist es eigentlich am schlimmsten“, sagt die 26-jährige Erzieherin aus Aurich. Sie ist seit mehr als vier Jahren als Teamleitung einer Wohngruppe für intensivpädagogische Hilfen tätig. Hilfe für junge Menschen, die Schlimmes erlebt haben. Traumatisches. Dinge, von denen sich die meisten Menschen keine Vorstellung machen können. Vernachlässigung, Verwahrlosung, Missbrauch und Gewalt in allen Formen – oft schon im Säuglings-und Kleinkindalter.
Das Weihnachtsfest sei für viele einfach mit traurigen Erinnerungen, Wut und Enttäuschung verbunden, sagt Melissa Reinken. „Die meisten unserer Kinder und Jugendlichen wünschen sich, dass die Feiertage schnell wieder vorbei sind.“
Dass all diese schlimmen Erlebnisse Spuren in den Seelen dieser Menschen hinterlassen, ist keine Überraschung. Eine gesunde, kindgerechte Entwicklung? Nein, daran ist nicht zu denken. „Nicht mit dieser schweren Last, die sie alle im Gepäck haben“, sagt die Erzieherin. Das Schlimmste seien die vielen Beziehungsabbrüche, die die jungen Menschen bereits erlebt haben, erklärt sie weiter. Die Jugendlichen in ihrer Gruppe sind zwischen 14 und 18 Jahren alt. Einige von ihnen haben in ihrem jungen Leben schon mehr als 20 verschiedene Pflegefamilien, Heime oder Wohngruppen durchlaufen, werden aufgrund ihres auffälligen Verhaltens immer wieder weitergereicht.
Ablehnung, Zurückweisung und Haltlosigkeit. „Was sie vor allem brauchen, ist Wärme und Zuwendung“, so die Erzieherin. Da gäbe es auch 17-jährige, die es lieben, wenn man ihnen abends etwas vorliest, sagt sie. „Einfach menschliche Nähe erfahren – denn das kennen sie nicht.“
Doch so verletzlich und sensibel diese Jugendlichen auch sind – so zeigen sie sich auch immer wieder von einer ganz anderen Seite. Richten die Wut und Gewalt, die sie selbst erfahren haben, gegen andere Menschen – verbal und körperlich. Da machen sie auch bei Melissa Reinken und ihren Kolleg*innen keine Ausnahme. In solchen Momenten heißt es Ruhe bewahren, die Situation im Blick behalten. Und vor allem: Die Angriffe nicht persönlich nehmen. Die Wut richte sich nicht gegen die Personen selbst, sondern gegen all die Verletzungen, die man ihnen bereits angetan hat, sagt Melissa Reinken.
Bei den Übergriffen gehe es meistens darum, anderen Angst zu machen. „Wer Angst verbreitet, der hat die Macht und damit auch Sicherheit.“ Kleinste Vorfälle könnten dann eskalieren, auch mal gefährlich werden. „Deshalb sind wir hier nie alleine und ein gut eingespieltes Team.“ Neun Fachkräfte sind für maximal vier Jugendliche in der Wohngruppe zuständig.
Schichtdienst, Rufbereitschaft, Wochenend-und Feiertagsarbeit – Bedingungen, die auf den ersten Blick nicht gerade verlockend klingen. Und doch gibt es für Melissa Reinken keine Alternative. „Ich könnte mir nicht vorstellen, in einem anderen Bereich zu arbeiten.“
Für sie sind es vor allem die kleinen Erfolge, die ihre Arbeit so wertvoll machen. Junge Menschen Schritt für Schritt in so etwas wie Normalität zu führen. Sie dabei zu unterstützen, ihr Leben selbstständig zu gestalten. Einen Schulabschluss, eine eigene Familie, einen Beruf? Viele Träume bleiben Träume. Das weiß die Erzieherin. Und doch ist das für sie kein Grund, diese Jugendlichen aufzugeben. Im Gegenteil. „Man muss im Gespräch bleiben, ihnen das Gefühl geben, dass sie nicht alleine sind.“
An Weihnachten wird die Wohngruppe von Melissa Reinken gemütlich gemeinsam frühstücken. „Und es gibt auch Geschenke“, sagt sie und lächelt. „Aber das größte Weihnachtsgeschenk ersetzt keine Familie“, schiebt sie nachdenklich noch hinterher.
Und sie selbst? Hat sie auch einen Wunsch?
„Kolleg*innen, die uns und unsere Arbeit unterstützen“, antwortet sie mit einem Augenzwinkern. Denn der Fachkräftemangel ist im Bereich der intensivpädagogischen Hilfen ganz besonders spürbar. Ein Job, der mit vielen Herausforderungen verbunden ist. Herausforderungen, die manche zurückschrecken lassen. „Verständlich“, findet die 26-jährige. Man müsse schon irgendwie dafür brennen, wenn man diesen Weg geht. „Aber ich persönlich habe meine berufliche Erfüllung gefunden – zum Glück.“
Geschrieben von Andrea Henkelmann